Brief von „Rossi“, Mittwochsdemonstrantin in der Bewegung „München steht auf“ an das „Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.“ München im November 2022

Sehr geehrte „Leser“ meines Briefes aus dem
„Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.“,

in dieser knappen Anrede ist das subsumiert, was ich von Ihnen sicher weiß.
Es verbinden sich für mich konkret keine Gesichter, Stimmen und sonstige Äußerungen. Selbst erlebte Erfahrungen und Begegnungen mit Ihnen fehlen mir in meinem täglichen Lebensumfeld.
Als Adressaten sind Sie für mich daher bis jetzt eine anonyme Gruppe von Mitbürgern.
Sicher weiß ich aber, dass die „Leser“ Menschen sind, die sich als unverwechselbare Individuen mit jeweils eigener Lebensgeschichte voneinander in großer Vielfalt unterscheiden. Sich den Zielrichtungen Ihrer Organisation zu verpflichten und in jeweils individueller Handlungsweise dafür einzutreten, eint sie wohl in Ihrer Intention.

Das gilt auch für mich als „Spaziergängerin“ innerhalb der Bürgerbewegung „München steht auf“.
Nur durch Zufall – nicht durch absichtliches Suchen – lernte ich diese Bewegung kennen.
Ich „geriet“ Anfang des Jahres 2021 an ein Kurz-Video im Internet. Sofort war ich fasziniert von zwei „Gesichtern“, ihren Stimmen und den emotionalen Äußerungen, die für mich authentisch wirkten. Ihr Lachen und Lächeln hat mich dazu angeregt, es mit ihnen zu versuchen, den großen Herausforderungen in Krisensituationen zu begegnen: damals und bis heute hauptsächlich „Corona“, inzwischen verschärft durch zahlreiche weitere Konflikte mit nationaler und globaler Tragweite und Verflechtung.

Der Philosoph Hubert Schleichert (leider 2020 verstorben)hat sich in seinem Buch „Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren oder Anleitung zum subversiven Denken“ heiter zum subversiven Phänomen des Lachens geäußert.
Es ist 1997 erstmals erschienen und erlebt nun 2022 seine 11.(!) Auflage:

„Ideologien aller Art, besonders auch Religionen, hassen das Lachen, weil sie wissen, wie gefährlich es ist. Wer über eine Sache lacht, hat keine Angst mehr vor ihr. Deshalb wird das Lachen oder selbst das Lächeln so rigoros verfolgt und bestraft. … Die Angst vor dem Lachen ist Angst vor dem Denken. Anstatt auf Befehl die Augen zu schließen und eine Doktrin gläubig hinzunehmen, wagt der Respektlose noch einen Blick mehr, eventuell einen Blick hinter die Kulissen. …“

Der programmatische (auch bebilderte) Inhalt der Website von „München steht auf“ entspricht bis heute meiner individuellen positiv ausgerichteten Lebensorientierung.
Ich bin seit Anfang 2021 bis auf die Ausnahme am 9. November 2022 keinem Spaziergang ferngeblieben und in meiner Erwartung von den Initiatoren niemals enttäuscht worden.

Ich habe in Gesprächen mit meinen Mitspaziergängern ( mit seltensten Ausnahmen) nur Positives erlebt und sehe mich in Gemeinschaft mit ihnen jeden Mittwoch gestärkt, allen Krisen, vor allem auch einer gefährdeten Demokratie, mit Zuversicht begegnen zu können. In der Fremdeinschätzung der Bewegung habe ich aber leider so viel Negatives erleben müssen, dass meine Toleranzkapazität ausgeschöpft ist.

Die Presseberichte der SZ über „München steht auf“ diskreditieren diese Zeitung als vertrauenswürdiges Leitmedium. Über 50 Jahre hinweg hat sie mich als allgemein seriös eingeschätzt begleitet. Zunehmend aber outet sich die Zeitung als Meinungsmanipulations- Organ, das sich im Grenzbereich des journalistisch erlaubten „Handwerks“ bewegt. So kann zwar nicht ohne weiteres von „Lügenpresse“ gesprochen werden, aber die sorgsam arrangierte „Tatsachenwiedergabe“ erfüllt nach meiner, der Ansicht meiner Begleiter sowie

2 nach zufällig gehörten Kommentaren von Münchnern an SZ-Werbeständen, den Tatbestand

nach § 130 in verschiedenen derzeitigen Konfliktbereichen, der für extreme Richtungen j e d e r Couleur ausnahmslos angewandt werden müsste.

Für den 9. November 2022 fehlte in der Website der Bewegung der explizite Aufruf in gewohnter Form zur Teilnahme am Mittwochsumzug. Es wurde jedoch mitgeteilt, dass der Mittwoch und der Versammlungsplatz der Veranstaltung einer anderen Initiative überlassen wird, nicht mit aktiver Beteiligung von „München steht auf“, aber im Vertrauen auf die Übereinstimmung mit deren Grundhaltung. Die Teilnahme stand jedem Menschen frei.

Ich hatte mich dazu entschlossen, mir nur kurz aus der Entfernung einen Eindruck von der Veranstaltung zu verschaffen und wurde sofort darin bestätigt, ihr ferngeblieben zu sein.
Es bot sich ein chaotisches Gemenge von skandierenden Kampfparolen, überforderten Rednern und Polizeieinsatzkräften. Die verbalen Äußerungen von Rednern waren für mich nicht zu verstehen, aber auch nicht notwendig, weil die Situation für sich sprach und nicht den Geist von „München steht auf“ repräsentierte. Ich verließ unmittelbar den Ort.

Im Nachhinein erfuhr ich, dass auch der Vorwurf von Antisemitismus die Versammlung überschattet hatte.
Ohne die Details zu kennen oder unbedingt kennen zu müssen, fühle ich mich unter dem allgemein-menschlichen bzw. allzu-menschlichen Aspekt verpflichtet, mich Ihnen gegenüber dazu nachdrücklich und von langer Lebenserfahrung gespeist zu äußern.

Ich bin 1947 in das deutsche „Kollektiv“- Schicksal der Weltkriegskatastrophe hineingeboren worden: in die sichtbaren Ruinen, aber auch die nicht sichtbaren Trümmer von unerfüllten Hoffnungen und Illusionen unterschiedlichsten oder gegensätzlichsten Ursprungs.
Mein Mann wurde 1944 während der Luftangriffe der Alliierten über München geboren und als Säugling im Luftschutzkeller verschüttet. Seine ältere Schwester konnte ihn verletzt durch ein Fenster retten. Die Narben waren ein ganzes Leben lang sichtbar.

Das Schicksal seiner Geburt und die umgebenden Umstände kann kein Mensch wählen; ich hätte zufällig auch ganz woanders auf dem Globus, mit anderer Hautfarbe, Kultur, Religion, in einem beschränkten sozialen Mikrokosmos, abgeschieden vom Rest der Welt geboren werden können.

Der Philosoph Sophokles (497/496 v. Chr. – 406/405 v. Chr.) äußerte dazu die Ansicht: „Nicht geboren zu werden, ist weitaus das Beste.“

Niemandem aber gelingt willentlich dieser Zustand !
Der Stoiker Seneca ( etwa 1 n. Chr. – 65 n. Chr.) ergänzte dazu: „Wenn es daher das

allergrößte Glück ist, nicht geboren zu werden, so halte ich es für das nächste größte, nach Überstehung eines kurzen Lebens schnell in den früheren unangefochtenen Zustand zurückversetzt zu werden.“
Das bedeutet aber für ihn trotzdem, dieses kurze Leben als individuelles „Wahl“-Schicksal weitgehend selbstbestimmt zu gestalten. „Nichts bringt uns mehr vom Weg zum Glück ab, als dass wir uns nach dem Gerede der Leute richten, statt nach unseren Überzeugungen.“ Scheinbar konträr: „Wer Befehle willig befolgt, dem bleibt die bitterste Seite der Abhängigkeit erspart, nämlich dass man tun muss, was man nicht will. Unglücklich ist nicht, wer etwas auf Befehl tut, sondern wer es widerwillig tut. Wir sollten daher die innere Einstellung gewinnen, dass wir wollen, was die Umstände von uns verlangen.“

Mein individuelles Schicksal als Deutscher, auch als nachgeborener, ist bis heute zu einem großen Teil geprägt von der Frage nach Schuld und Verantwortung für die Vorgänge im Dritten Reich, aber auch von der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des „Antisemitismus“: global, in anderen Weltregionen, in anderen Gesellschaftssystemen, Kulturen und Ethnien.
Ich hatte in meinen Kindheits- und Jugendjahren keine verlässlichen Orientierungspunkte in meinem sozialen Umfeld. Die meisten Mitmenschen hatte der Schock verstummen lassen.

3 Lediglich in den Medien und auf dem Gymnasium wurden wir über die „W a h r h e i t“

unwidersprechbar apodiktisch „aufgeklärt“.
Das führte bei mir wie bei so vielen anderen sogar zu einer nicht hinterfragten Beschuldigung engster Bezugspersonen, die sich nicht einmal mehr dagegen wehren wollten und konnten in der Aussichtslosigkeit, wirklich gehört und akzeptiert zu werden.

Gegenwärtig ist in den medialen Diskursen jedoch nicht mehr von „Wahrheit“ die Rede, sondern von „N a r r a t i v e n“.
Nach Wikipedia wird als „Narrativ“ seit den 1990er Jahren „eine sinnstiftende „Erzählung“ bezeichnet, „die Einfluss auf die Art hat, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen, ist in der Regel auf einen Nationalstaat oder ein bestimmtes Kulturareal bezogen und unterliegt dem zeitlichen Wandel. Weit verbreitet ist die Meinung, dass

Narrative gefunden und nicht erfunden werden. Konsens ist, dass Narrative eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Orientierung geben und Zuversicht vermitteln können.“

Ich leide persönlich unter dem unreflektierten inflationären Gebrauch dieses Begriffs.
Er impliziert nicht die Betroffenheit einer Person auf ihrem individuellen Lebensweg, die selbstverständlich nicht explizit erzählt werden kann oder auch soll. Die Akzeptanz einer vom Mainstream abweichenden Lebens- „Geschichte“ ist jedoch zu selten wahrnehmbar.
Der Begriff basiert auf dem lateinischen Wort narrare (erzählen von Geschichten). Geschichten können auch als Märchen oder Mythen bezeichnet werden.
„Märchenerzählen“ ist als Immaterielles Kulturerbe in Deutschland anerkannt worden.
Die Deutsche UNESCO-Kommission hat das Märchenerzählen im Dezember 2016 in
das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

Für jeden Menschen bietet ein Märchen andere Assoziationsmöglichkeiten.

Die psychologische Dimension der Bedürftigkeit nach Mitmenschlichkeit und Resilienz hat der Philosoph Odo Marquard ( 1928 – 2015) so virtuos ausgedrückt, dass sich meine eigenen Ausführungen erübrigen.
Er war ordentlicher Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Träger des Bundesverdienstkreuzes 1.Klasse; zahlreiche Auszeichnungen wurden ihm verliehen. Marquards Schriften zeichnen sich durch einen pointierten und humoristischen,

zuweilen polemischen Stil aus, für den er selbst den Ausdruck der „Transzendentalbelletristik“ prägte.
Zitate: Für ihn sind Mythen „keine Vorstufen und Prothesen der Wahrheit.“ „Die mythische Technik – das Erzählen von Geschichten – ist wesentlich etwas anderes, nämlich die Kunst, die (nicht etwa fehlende, sondern) vorhandene Wahrheit in die Reichweite unserer Lebensbegabung zu bringen, um diese Wahrheiten in unsere Lebenswelt hereinzuerzählen, oder um sie in unserer Lebenswelt in jener Distanz zu erzählen, in der wir es mit ihnen aushalten.“

„Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie.“

In den 1960er Jahren lernte ich meinen Ehemann kennen, mit dem ich basierend auf gemeinsamen Bedürfnissen in über fünfzigjährigem Beisammensein allen Spuren in die Welt des Judentums nachging, bis sein Tod uns physisch 2016 trennte.
Zahlreich waren persönliche Begegnungen mit Juden und Jüdinnen in ihrem Umfeld und ihren Institutionen in München.
Bedeutsam ist für mich bis heute das gemütliche vertrauliche Beisammensein von uns Studenten in den 1970er Jahren im Wohnzimmer des Rabbi Grünewald im gerade neu erbauten Kolosseum, noch dazu bewirtet mit den köstlichen Leckereien seiner Frau. Die Personen, denen wir auf unserer Suche selbst begegneten, unterschieden sich wie alle

4 Menschen in ihren individuellen Einstellungen, lebensgeschichtlich geprägt von krasser

Abneigung bis zu herzlichster Freundschaft.
Auch die Literatur (Narrative?) des Judentums und über das Judentum wies damals wie heute erhebliche Unterschiede auf. Dazu gäbe es ebenfalls viele zu erzählende „Narrative“…

Der 9. November hat in Deutschland für die Menschen mehrfach historische Bedeutung:
für die einen leidvoll, für andere freudvoll, für die meisten beides.
In der Veranstaltung 2022 herrschte ein Klima des Kampfes von Gruppen und Einzelpersonen um die Deutungshoheit ihrer Narrative. Keiner der Beteiligten hat aber meiner Meinung nach ein Vorrecht, die Bedeutung dieses Tages privilegiert zu beurteilen.
Schmerz und Freude sind allgemein menschliche – aber auch individuelle Empfindungen – für jeden Menschen gleichwertig und nicht ideologisch auf- oder abzuwerten. Beides ist elementar und legitim, auch nicht unter historischen Umständen in eine bestimmte Richtung
zu relativieren.
Extreme Ansichten und Gewalt, die es an den Rändern jeder Demonstration gibt, lehnt „München steht auf“ nicht nur verbal grundsätzlich ab. Ordner sorgen für die Einhaltung dieser Regeln in Kooperation mit der Polizei, die unsere Umzüge nach einer repressiven Phase mittlerweile fair begleitet.
Die SZ erklärt jedoch permanent extrem seltene Entgleisungen in Einzelfällen pars pro toto zum Normalfall, beeinflusst dadurch die Wahrnehmung der Bevölkerung und versorgt sie mit Kampfbegriffen zur Abwehr von weit überwiegend nur angeblichen Feinden der Demokratie. Es fehlt jegliche Fairness. Ich weiß, dass nicht jeder Journalist der SZ dieser Meinung ist, aber um seine wirtschaftliche Existenz bangen muss. Die Mitarbeiterzahl wurde bereits erheblich eingeschränkt.
„München steht auf“ legt den Focus ihrer Bürgerrechtsbewegung auf das generelle Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und eine f a i r e Berichterstattung durch jedwede Presse. Selbstverständlich gilt der Maßstab der Fairness genauso beim Ansprechen aktuell drängender Probleme für die Redner und Repräsentanten von „München steht auf“, sowie für alle Teilnehmer des Mittwochsumzugs .
Eine Gemeinsamkeit in den Absichten der aufeinander prallenden Narrative kann ich jedoch mit großer Freude und Zuversicht wahrnehmen:
Uns allen geht es wohl darum, den Mitmenschen und uns selbst in der aktuellen Krisensituation unser kurzes Leben erträglich zu gestalten und zu einem möglichst glücklichen Leben zu verhelfen !

Denn e i n e Wahrheit gilt unwiderlegt für jeden:
Die Mortalität des Menschen beträgt 100 %, für den einen früher, für den anderen später.

Das sähe ich als Anlass für einen toleranten Diskurs mit Ihnen.
Unterhalten wir uns doch darüber, was wir positiv zusammen gestalten können, anstatt uns Trennendes gebetsmühlenartig ständig vorzuwerfen.
Marquard sieht als eigentlichen Feind einen „Verständigungsperfektionismus“:
„Konsens nämlich ist keineswegs immer nötig; viel wichtiger ist das produktive Missverständnis; und am wichtigsten ist schlichtweg Vernunft: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben, was interdisziplinär nützlich ist: nämlich leben zu können mit offenen Aporien und Dissensüberschüssen.“
Das verständnisbereite Lächeln oder Lachen , das gerade auch dem sog. Jüdischen Witz eigen ist, könnte möglicherweise einem Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenwirken, in Ihrem Forum besonders bezogen auf „Antisemitismus“ und auf scheinbare oder wirkliche Gefahren von als „Nazis“ titulierten „Rechten“.

Mein Lebensweg mit Erfahrungen über 75 Jahre Zeitgeschichte gibt mir die Berechtigung zu dieser Hoffnung ! Das aber ist eine eigene „Geschichte“…