Sehr geehrter Herr Reiter,

seit April 2021 gehen jeden Mittwoch in München Menschen auf die Straße.

Stets treten wir für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft ein, grenzen uns ab von Extremismus, Hass und Gewalt und wenden uns gegen jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. So konnten wir sogar de-radikalisierend auf Einzelpersonen einwirken, die einst Meinungen vertraten, die aus demokratischer Sicht schwierig sind. Mit der Polizei und den Einsatzleitern kamen wir stets gut zurecht und die Auflagen wurden stets in einem Maß eingehalten, mit dem die Polizisten offenbar zufrieden waren. Unter den Demonstrierenden gibt es viele Menschen, die Ihnen ins Amt verholfen haben, denn sie – wie auch ich – haben Sie einmal gewählt. Sie gaben vielen von uns einen Hoffnungsschimmer, als sie im November letzten Jahres kurzfristig die Maskenpflicht an Grundschulen aufhoben, was dann leider wieder gekippt wurde. Durch einen Eingriff der Staatsregierung, der sie damals verärgerte.

Nun hat ein Bündnis aus zahlreichen Initiativen und Aktivisten, zusammen mit vielen tausend Menschen, in den letzten Wochen den Mittwochsumzug von „München-steht-auf“ zu einem Großereignis gemacht. Die Massen, die am 15.12. in der Ludwigstraße standen, waren in ihrer Zusammensetzung ausgesprochen pluralistisch. Es waren Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus, unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster politischer Ausrichtung darunter. Sogar mit unterschiedlichem Impfstatus. Eine Menge, die diverser kaum hätte sein können.
Eines aber eint diese Menschen: sie erleben den Staat als außerordentlich übergriffig. Spätestens seit Ankündigung der Impfpflicht mit Covid-19-Impfstoffen für den medizinischen Bereich, 2G und der plötzlichen Befürwortung einer Allgemeinen Impfpflicht von Seiten aller regierenden Parteien nach der Wahl, wurde für viele eine rote Linie überschritten. Die Sachlage zu diesen Impfstoffen soll hier nicht das Thema sein. Es geht um den Frieden in unserem Land und unserer Gesellschaft.

Es ist mir wichtig, dass Sie verstehen, dass sehr viele Menschen verzweifelt sind, unter anderem wegen eines faktischen oder drohenden Verlusts ihres Arbeitsplatzes aufgrund der Impfpflicht, die indirekt bei vielen schon da ist. Sehr viele Menschen vertrauen der Politik nicht mehr. In meinen Augen ist das angesichts dessen, was erst vor und dann nach der Wahl zum Thema Impfpflicht gesagt wurde, auch berechtigt. Trotz dieser Enttäuschung und daraus resultierendem Frust verliefen unsere Versammlungen letztlich immer friedlich, ebenso wie am letzten Mittwoch. Die weit überwiegende Mehrheit der Demonstrierenden verließ nach Veranstaltungsende ruhig das Versammlungsgelände. Auch diejenigen, die danach noch durch die Straßen zogen, haben keineswegs randaliert und es wurde meines Wissens auch niemand ernstlich verletzt. Es war ein zwar irregulärer, aber ein durchweg friedlicher Protest.

Die Menschen möchten sich zeigen und gesehen werden, sie möchten mit ihrem Thema viele Leute erreichen. Eine stationäre Versammlung gibt ihnen diese Möglichkeit nicht, schon gar nicht in der – wenn auch zentralen – Peripherie einer Theresienwiese.

Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass sie keinen Protest wünschen, der nicht regulär abläuft. Machen Sie ihn regulär! Indem sie die Menschen – und es werden diesen Mittwoch noch viel mehr kommen – ziehen lassen. Bei einem wie von uns angezeigten Demonstrationszug können zudem die Abstände wesentlich besser eingehalten und kontrolliert werden als bei einer stationären Versammlung.

Die Stadt Nürnberg hat am Sonntag, den 19.12., eine problemlos verlaufene Demonstration erlebt. Der Schlüssel hierzu war meines Erachtens ein auch für die Demonstrierenden vertretbares Maß an Auflagen und das „Laufenlassen“ des Zuges.

Die Menschen werden sich auch diesen Mittwoch mit friedlicher Absicht versammeln. Lassen Sie sie ungehindert laufen!
Kommen Sie gerne hinzu und sehen Sie mit eigenen Augen, welche Menschen in München auf die Straße gehen. Ich möchte Ihnen die Hand reichen, weil wir beide dasselbe Ansinnen haben: München soll friedlich, vielfältig und demokratisch bleiben.

Es lebe der Frieden, die Freiheit und die Demokratie.

Melchior Ibing                                                                                                           München, 20.12.2021