Wenn sich Menschen gegenüberstehen, die doch eigentlich nicht gegeneinander stehen.

Am 9.11.22 führte Markus Haintz eine Versammlung in München durch. Thema der Versammlung war „Freiheit für alle politischen Gefangenen“. Mit den Hashtags #freejanich und #freeballweg nahm er betonend Bezug auf diese beiden Personen, die seiner juristischen Einschätzung nach, aus politischen Gründen von der deutschen Justiz ausgesprochen unfair behandelt werden.

Es war freilich provokant, diese Versammlung an diesem Tag zu machen. Am 8.11. reagierte Martin Bernstein auf diese Provokation. Die Art, wie er das tat, war gleichermaßen virtuos und fatal. Gleich im ersten Absatz verwies er auf Nikolai Nehrlings Getwitter. Nehrling hatte nichts, aber auch rein garnichts, mit dem Veranstalter zu tun und es gibt keinerlei Zusammenarbeit zwischen den beiden. Doch Nehrling rief dazu auf, auch die Freilassung einer verurteilten Holocaustleugnerin zu fordern. So etwas ist für Martin Bernstein freilich ein Leckerbissen. Er ist schließlich ein Virtuose der lügenfreien Desinformation. Er kann nicht behaupten, dass der Veranstalter hier den Holocaust relativieren will, also suggeriert er das über den Tweet von Nehrling. Den geplanten Versammlungsort am Marienplatz, stellt er als eine bewusste Respektlosigkeit gegenüber einer Gedenkveranstaltung dar, die im anliegenden Rathaus stattfinden sollte. Ob Haintz davon überhaupt wusste, ist ihm herzlich egal. Er wusste es nicht, es war auch keineswegs eine allgemein bekannte Veranstaltung. Es passte einfach in die Geschichte, die Bernstein erzählen wollte. Zu guter Letzt zog Bernstein noch einen Text von mir heran, zusammenhanglos genau die Sätze nutzend, die zu seinem Zweck passen. Die Geschichte, die Bernstein erzählen wollte, ist simpel. Er suggeriert, dass hier ein antisemitischer, brauner Mob aufmarschieren will, um die Erinnerung an den 9. November 1938 zu besudeln. Die Folge war eine Welle der Empörung in der Münchner Politik und eine massive Mobilisierung zum Gegenprotest. Hier ist Bernsteins Artikel und hier der erwähnte, zugegebenermaßen in Teilen ungeschickte, Text von mir.

So kam es nun, dass hunderte Bürger an den Max-Joseph-Platz kamen, um einem, wie sie dachten, Naziaufmarsch die Stirn zu bieten. Sie trafen auf eine Gruppe Demonstranten, die dem allerdings einfach nicht entsprechen wollte. Letztlich standen sich zwei Gruppen gegenüber, denen es beiden ums „Nie wieder“ ging. Auch von Nehrling war keine Spur, er wusste offenbar, dass er nicht willkommen gewesen wäre und er hatte sein Zerstörungswerk schon erledigt. Dann kam ein wichtiger Moment, der in der Rückschau auf die Versammlung, seitens der Demokratiebewegung, leider sehr in den Hintergrund geriet. Markus Haintz hielt seine Rede. Er bezog sich auf den, eigentlich gemeinsamen, Boden auf dem die Demonstranten beider Seiten standen. Die Positonen, die er dort vertrat, seine eigenen, wie die von Sahra Wagenknecht, sind demokratisches Allgemeingut. Sie sind, aus einem demokratischen und mitmenschlichen Standpunkt heraus, schlicht nicht anzugreifen. Er fragte die Gegendemonstranten, ob sie der Ansicht sind, dass es in Ordnung ist, Menschen mit anderer Meinung als „Ratten“ zu bezeichnen. Die Gegendemonstranten sollten laut sein, sofern sie das in Ordnung finden – und es blieb still. Er legte Wortgewandt dar, welche Abgründe sich im politischen Diskurs unserer Zeit auftun und dass „Wehret den Anfängen“ durchaus in gewisser Breite gedacht werden muss, wenn es seinen Ansprüchen gerecht werden soll. Wer die sehr empfehlenswerte Rede nicht kennt, findet sie hier.

Der weitere Verlauf war im Prinzip dass Ende der Versammlung nach einem Gespräch zwischen Haintz und einem Gegendemonstranten. Über den Abbruch und vor allem die Art des selbigen, habe ich mich an anderer Stelle geäußert.

Von den Gegendemonstranten werden wohl einige den Ort recht nachdenklich verlassen haben. Sie waren gekommen, um Nazis die Stirn zu bieten und fanden sich neben einem hasserfüllten, maskenvermummten Antifablock wieder. Die Nazis waren nicht zu sehen. Die Botschaft von Markus Haintz Rede wird ihnen zumindest verständlich gewesen sein. Sie mögen es noch immer für verachtenswert und geschmacklos gehalten haben, dass diese Versammlung an diesem Tag in München abgehalten wurde. Aber es war gewiss nicht das, was ihnen die Süddeutsche Zeitung suggeriert hatte. Manch einem mag auch der ziemlich durchwegs dialogfeindliche und undemokratische Auftritt der sog. Antifa übel aufgestoßen sein. Besonders tragisch aber ist der Fall Marian Offmans. Der jüdische Ex-Stadtrat ging in die Versammlung und verlangte das entfernen eines Schildes. Meines Wissens war der Stein des Anstoßes eine Abbildung, die zum Gedenken an den Holocaust mahnte, was Offman wohl konträr interpretierte. Sie enthielt einen Davidsstern. Darüber empörte sich der Mann. Es kam zu einem Streit mit anderen Teilnehmern und Offman ließ sich dazu hinreißen, diese zu beleidigen. Eine Straftat. Er tat dies alles wohl in dem Glauben, gegen Nazis einzustehen. Dieser Irrtum gibt ihm jedoch freilich nicht das Recht, Menschen zu beleidigen. Man sollte sich eben nicht von einem Martin Bernstein in den Hass schreiben lassen.

Bernsteins Agieren im Vorfeld der Versammlung ist mit Journalismus wirklich nur noch im sehr ausgeweiteten Sinne zu bezeichnen. Es war Aktivismus gegen seine politischen Gegner. Es war Propaganda. Er hat dem Ruf der Süddeutschen Zeitung damit wohl keinen Dienst erwiesen. Er hat die „Nazi-Keule“ mit aller Macht seiner Worte geschwungen, erneut den Rechtsextremismusvorwurf missbraucht und die Keule damit weiter der Abnutzung zugeführt. Betrachten wir die ganze Geschichte mal als ein taktisches Manöver von Markus Haintz, mit dem Ziel die „Nazi-Keule“ zu schwächen. So betrachtet war es ein Erfolg, und Martin Bernstein ist in die Falle getappt. Wie groß und nachhaltig der Schaden für den Regierungskritischen Protest in München ist, kann man wohl nicht genau beziffern.

Man kann nun nur hoffen, dass die Süddeutsche Zeitung in Zukunft genauer hinschaut, was ihr Versammlungsspezialist so schreibt. Desinformation und politischer Aktivismus war früher einmal nicht mit dem Niveau und Anspruch der Zeitung vereinbar.

Ich frage mich manchmal, ob sich Bernstein noch immer selber glaubt, was er beständig suggeriert. Nicht nur, dass er sich weigert, Chats und Kommentare auf Telegram als das zu begreifen, was sie sind: das digitale Äquevalent zum Stammtisch. Er scheint auch die Äußerungen anderer Seiten, die denen der Telegramblase oft in nichts nachstehen, nicht zu sehen. Für mich ist er zu einem Symbol der tiefgreifenden Medienkrise geworden. Ich habe großen Respekt vor seinen beträchtlichen Fähigkeiten. Er könnte damit so viel tun, um Menschen einander nachvollziehbarer zu machen. Wenn man andere nachvollzieht, tut man das als emphatiefähiges Wesen. Wen ich nachvollziehe, den sehe ich als Mensch und kann ihn dann vor mir auch nicht mehr entmenschlichen. Da liegt für mich persönlich der Kern des ganzen „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“. Wenn wir andere aus dem Mitmenschsein ausschließen, sind wir auf dem Weg in die Finsternis. Auf allen Seiten der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte wünsche ich mir mehr Empathie. Mehr Bereitschaft auch den Gegner nachzuvollziehen. Dabei hilft Dialog. Wenn Bernstein einen solchen will, hat er ja meine Nummer.

Melchior Ibing